Unscharf.
„(4) At the same time, […] artificial intelligence may generate risks and cause harm […]. Such harm might be material or immaterial, including physical, psychological, societal or economic harm.”
AI Act des Europäischen Parlaments, 2024
„[…] [Ein] Quantenobjekt [hat] keine festgelegten Eigenschaften, solange es nicht vermessen wird. Die Vielzahl seiner möglichen Zustände wird beschrieben durch die Wellenfunktion. Bei einer Beobachtung wird dann von den verschiedenen Möglichkeiten nur eine Realität, alle anderen verschwinden spurlos.“
Quantenphysik: Einfach erklärt in 20 Begriffen [geo.de]
„Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist.“
Paul Watzlawick
Im Restaurant:
Glasnudeln.Gebratenes Gemüse, Garnelen. Ein Geburtstagsessen.
Mit einem noch leicht misstrauischen Blick begutachtet Herr S. die Karte des China-Restaurants. Um den 58. Geburtstag seiner Frau Anna zu feiern, hat er sie zum Essen eingeladen. Nun sitzen die beiden im WorldWildWok. Herr S. denkt an ein knappes Gespräch in der Cafeteria des Redaktionsgebäudes. Sein Kollege hatte diesen Gourmettempel doch so enthusiastisch gelobt. Hoffentlich schmeckt es ihr.
„Mal etwas Neues ausprobieren“, das hatte sich Anna von ihrem Ehemann gewünscht. Es ist, was es ist: Mit der Zeit schleichen sich graue Routinen ein. Der Alltag verstaubt schneller, als einem lieb ist. Kennen Sie das?
Ein kulinarisches Abenteuer war in diesem Sinne eine gute Idee. Fernöstlich und köstlich, aber bitte nicht so scharf.
Erlauben wir uns, nachdem wir ihn nun ein wenig näher kennengelernt haben, unseren Protagonisten beim Namen zu nennen: Markus. Dieser befördert soeben die letzten Körner Reis mittels geschickter Gabel-Akrobatik in Richtung Speiseröhre. Satt und zufrieden. Und seine Frau? Anna log in vergangenen Jahren nicht selten aus Höflichkeit, aber heute ist auch ihr Lob an die Küche aufrichtig und ehrlich.
Als Dessert serviert die junge Bedienung an diesem Freitagabend zwei Glückskekse, garniert mit einem schüchternen Lächeln. Mit einer Behutsamkeit, die er seinem von jahrelanger Schreibarbeit abgenutzten Greifapparat kaum zugetraut hätte, seziert Markus das goldbraune Gebäck. Beim Rezitieren lässt er seiner Frau den Vortritt. Anna belehrt ihn schmunzelnd: „Ändere deine Gedanken und du änderst deine Welt“.
„Und bei dir?“ Um die kleingedruckte Weisheit zu entziffern, muss Markus seine Brille abnehmen. „Ich denke, also bin ich.“
Als Redakteur und Autor weiß er von der Kunst, wenigen Wörter viel Kraft zu verleihen, wenn man sie doch nur richtig anordnet und mit einigen Satzzeichen verziert. Nach dem Festmahl hat er jedoch keine Energie mehr, lakonische Lebensweisheiten zu interpretieren. Er freut sich auf sein Bett.
Anna geht es genauso. Zuhause angekommen bedankt sie sich nochmals für das tolle Essen. Als Markus sich zu ihr legt, schläft sie bereits friedlich. Er grübelt noch. Ihre Bäuche sind an diesem Abend gut gefüllt, ganz im Gegensatz zu ihrem Konto. Die Lebenshaltungskosten sind stark gestiegen. Alles wird teurer. Als Redakteur bei der örtlichen Tageszeitung verdient er ausreichend, aber auch nicht mehr. Die Zukunft ist bewölkt. Die Mehrheit liest Nachrichten lieber ungefiltert aus einem blauen Buch. Oder leistet einem vereinsamten Buchstaben Gesellschaft. Daher hat Markus begonnen, sich ein zweites Standbein aufzubauen. Sein erster Kriminalroman kam gut an. Und dennoch. Es sind schwere Zeiten.
Nach einiger Zeit schafft es Markus, die Sorgen zu verdrängen und sich an der gelungenen Geburtstagsfeier zu freuen. Immerhin hat es Anna geschmeckt und gefallen.
Endlich schläft er ein.
Im Büro:
Glasfaser. Gigabytes, Galaxienhaufen. Grafikprozessoren im Vergleich.
Es ist noch ziemlich früh am Morgen, aber Markus sitzt bereits im Büro und stöbert in einem Wissenschaftsmagazin. Mit den Fremdwörtern aus der Informationstechnologie kann er sich nicht wirklich anfreunden. Weiterblättern.
„Einführung in die Quantentheorie – kinderleicht erklärt.“ Na ja, einen Versuch ist es wert. Markus liest von Teilchen, die durch Wände gleiten. Von Teilchen, die überall sind und sich zu gewissen Wahrscheinlichkeiten an einem bestimmten Ort auffinden lassen. Von Unschärferelationen. Von Katzen, die gleichzeitig tot und lebendig sind. Das klingt für ihn nach Fantasiegeschichten.
Jetzt aber an die Arbeit. Markus soll einen Artikel über die Zukunft des Schreibens in Zeiten der KI verfassen. Ausgerechnet er, ein altmodischer Grobmotoriker in Sachen Technik. Aber die meisten jüngeren Kollegen sind krank. Ein Virus.
Als Markus die Zeitschrift beiseitelegt, segelt ein Werbeflyer zu Boden. Sein Rücken meckert, während er sich unter den Schreibtisch bückt. Grelle Buchstaben schreien ihm entgegen: „Quantum Reality – DIE REVOLUTION DES SCHREIBENS! DER NEUE VR-SCHREIBASSISTENT! Tauchen Sie selbst in Ihren Text ein. Schreiben leicht gemacht – persönlich und spannend!“
Er denkt an seinen Artikel. Aber selbst KI nutzen? Er – ein abgehängter alter Mann im Technologierennen?
An dieser Stelle könnten wir spekulieren, was Markus dazu bewegt, die neue Software auszuprobieren. Sind es die schlauen Worte über Veränderung, die seine Frau am Abend zuvor aus dem Glückskeks entpackte? Oder vielmehr finanzielle Sorgen? Einige junge Kollegen in der Redaktion bedienen sich schon seit längerem der Künstlichen Intelligenz. Man wolle ja nicht abgehängt werden. Alles muss schneller gehen, an allen Ecken gespart werden. Von medizinischen KI-Anwendungen hat Markus gelesen, das findet er toll. Aber beim Schreiben? Vielleicht schadet es nicht, sich vor Schriftsteller-Krankheiten wie dem „Vertripper“ oder der Formulier-Faulheit zu schützen. Flüchtig denkt er an Bilder von protestierenden US-Schriftstellern, die um ihre Existenz bangen. Lange hat er sich gewehrt. Und jetzt? Zeit-, Geld- und Gruppendruck: Eine kreative Kapitulation. Alles geht besser und schneller mit KI. Oder? Seine Neugier setzt sich gegen die Zweifel durch. Jetzt will er auch einmal auf dem neuesten Stand sein. Markus setzt sich an den Schreibtisch.
Während der Computer startet, haben wir einen Moment Zeit, unsere kindliche Fantasie zu erwecken und uns vorzustellen, wir seien eine Maus. Friedlich schlummert sie unter einem Berg von Notizzetteln, die Markus gleich beiseiteschieben wird.
Unsere Maus nagt, piepst und quietscht nicht. Diese Maus muss sich keine Sorgen machen, von einer Katze gejagt zu werden. Vermutlich ist sie also doch tot. Die Maus wurde schon vor einigen Jahrzehnten domestiziert und klickt brav, wenn Markus sie mit zittrigen Fingern darum bittet. Bleiben wir noch ein wenig in der Mäuseperspektive, sehen wir einen konzentrierten Schriftsteller. Ergrautes Haar und braune Brille, gewiss kein Virtuose an der Tastatur, aber dennoch erfolgreich bei der Suche nach der Website des Anbieters. Quantum Reality. Klick.
Markus stößt auf den dringenden Hinweis, er müsse sich zunächst eine Virtual-Reality-Brille besorgen. Er erinnert sich vage daran, diese schon einmal bei einer internen Feier in Verwendung gesehen zu haben. Markus macht sich auf die Suche und wird im Erdgeschoss fündig: In einer Kiste mit der Aufschrift „Teambuilding“ liegt tatsächlich ein Exemplar dieser klumpigen Augenklappen.
Mit der Beute in der Hand macht sich unser Protagonist auf den Rückweg zu seinem Schreibtisch. Das moderne Gerät fühlt sich fremd in seiner Hand an, wie zwei Puzzleteile, die nicht ineinander passen. Für den jungen Mitarbeiter, der ihm auf der Treppe entgegenläuft, gleicht das Beobachtete einem seltenen Naturschauspiel: „Hey, Herr Salztal! Sie werden ja richtig modern! Wir können uns später im Metaverse treffen!“ Dankend lehnt er ab – er wolle nur schnell etwas ausprobieren – und eilt die Treppen hinauf, so gut das in seinem fortgeschrittenen Alter noch möglich ist. Nachdem er die Ziellinie, die Schwelle seines Büros, erreicht, lässt er sich keuchend auf den Schreibtischstuhl fallen.
Während sein Herz kräftig pumpt, liest Markus weiter. Cookies. Ihm kommt die wohlschmeckende Verführung in den Sinn, vor der seine Frau immer wieder vergeblich warnt. Auch zu den digitalen, zum Glück kalorienfreien Cookies sagt Markus nicht nein. Alles akzeptieren. Klick. Der Download ist abgeschlossen. Quantum Reality startet automatisch in 60 Sekunden.
Erwartungsvoll nimmt er das VR-Headset in die Hand. Markus merkt, dass seine Fernbrille im Weg ist und legt sie auf den Schreibtisch. Nach einigem Drehen und Drücken hat er die richtige Position gefunden.
Quantum Reality startet in 5, 4, 3, 2, 1…
In der virtuellen Welt:
Glasklar. Das muss sein Arbeitsplatz sein. Markus schaut sich um. Sein Schreibtisch steht nicht mehr da. Kein Mensch weit und breit.
Nach einiger Zeit beschließt er, sich draußen umzusehen und macht sich auf den Weg zum Haupteingang. Vorsichtig tritt er auf den Gehweg. Da! An einer Bushaltestelle meint er, Datum und Uhrzeit erkennen zu können. Markus nähert sich. 9:41 Uhr. 9. Januar? Die Ziffern sind so klein. Spielen ihm seine Augen einen Streich? Seine Brille liegt auf seinem Schreibtisch – in einer anderen Zeit. In einer anderen Welt? Auch die Jahreszahl sieht er nur verschwommen. Unscharf.
Markus meint, nach einigem Blinzeln und intensivem Starren eine 2 und eine 0 ausmachen zu können. Just in diesem Moment fährt jedoch ein Bus ein. Markus, ein Hindernis im gestressten Gerangel der Großstadt, flüchtet auf eine Parkbank.
9. Januar. In welchem Jahr befinden wir uns nun? Die letzten beiden Ziffern der Jahreszahl kann Markus nicht erkennen. Diese dürfen Sie sich selbst aussuchen. Wie nah an unserer Gegenwart spielt sich das Geschehen ab? Doch bedenken Sie: Zwei. Null. Die KI-Revolution ist kein futuristisches Vielleicht.
Markus sitzt auf der Parkbank und versucht vergeblich, zu verstehen.
Da fällt sein Blick auf ein armes Häufchen Mensch, das vor einem heruntergekommenen Laden steht. Markus schätzt ihn älter, als er ist. Das liegt vermutlich an den vielen Sorgenfalten, die das Gesicht des Mannes zeichnen. Er beschließt, ihn anzusprechen. Schließlich wollte er eigentlich einen Artikel schreiben.
„Guten Tag! Mein Name ist Markus. Ich bin hier als Redakteur angestellt. Dürfte ich fragen, wer Sie sind?“
Der Herr runzelt die Stirn. „Sie schreiben noch selber?
„Ich verstehe nicht ganz. Ich schreibe Artikel für die Zeitung. Auch einen Roman habe ich verfasst. Sie können übrigens auch „Du“ sagen. Ich bin Markus.“
„Ich weiß, wer du bist. Ein Hoffnungsloser. Genau wie ich.“
Markus versucht sich abermals zu erklären, aber der Herr winkt ab.
„Ich habe auch lange versucht, weiterzuschreiben. Früher Kriminalromane. Zuletzt Geschichten für Kinder. Eine Herzenssache. Dazu führte ich meine eigene Buchhandlung.“ Er wendet seinen Blick auf das kleine Geschäft hinter ihnen. Die rote Farbe, die von der Wand abblättert, ist ein letzter Überrest von dem, was war.
„Ich habe inzwischen aufgegeben. Das alles ist Geschichte. Die Menschen wollen nicht mehr zahlen, nur weil etwas selbstgeschrieben ist. Für sie bin ich ein Verrückter. Veraltet und verwirrt. Ein schreibender Mensch.“
„Ein schreibender Mensch.“ Markus überlegt. „Aber was lesen die Menschen denn stattdessen? Mein Redaktionsbüro war auch so… leer.“
„Dich brauchen sie nicht mehr. Jeder liest seine eigenen Geschichten. Auf ihren Geräten wird eine Geschichte produziert, an die jeweiligen Vorlieben angepasst. Die Intelligenz weiß, was ihnen gefällt, was sie spannend finden. Wer will schon für menschengemachte Geschichten oder Artikel zahlen, die einem womöglich gar nicht gefallen?“
Markus muss schlucken. „Und wie ist das mit den Nachrichten? Sind die nicht für alle gleich?“
„Hast du das gar nicht mitbekommen? Nichts ist mehr wie früher. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine – zwischen natürlich und künstlich – verschwimmen. Bilder, Texte, Stimmen. Niemand weiß mehr, was echt ist. Also glauben die meisten Menschen einfach das, was ihnen gefällt. Die zweite große Sintflut. Die Wahrheit ist in einem Meer aus Informationen und Geschichten ertrunken.“
„Aber…“ Markus überlegt. „Kann die Politik das nicht eingrenzen?“
„Sie haben es versucht. Das muss man ihnen lassen. Viele Intelligenzen haben sich aber selbstständig gemacht. Sie lassen sich nicht wieder einfangen. Irgendwann wurde es allen zu anstrengend, die Wahrheit herauszufiltern. Wie ein Kind, das hoffnungslos versucht, mit einem Eimer in der Hand das Meer abzuschöpfen, damit seine Sandburg nicht einstürzt.“
Der schreibende Mensch erkennt die vielen Fragezeichen in Markus‘ Gesicht. „Komm‘ mit.“
Die beiden gehen in die kleine Buchhandlung. Der schreibende Mensch holt ein nahezu papierdünnes Tablet hervor. Er drückt seinen Finger auf einen Sensor. Datenprofil wird geladen. „Was machen Sie da?“, fragt Markus.
„Was wollen wir lesen? Einen Roman? Der hier scheint gut anzukommen.“ Überfordert stimmt Markus zu. Geschichte wird generiert…
Als Markus zu lesen beginnt, bleibt ihm der Mund offen stehen. „Das ist meine Geschichte! Mein Roman!“, ruft er empört. Der schreibende Mensch muss schmunzeln. Er springt zum Ende des Romans. „Moment, warten Sie mal!“ Markus liest nochmal genauer. „Das kann doch gar nicht sein! Wieso ist der Anwalt gestorben? Das habe ich so gar nicht geschrieben. Da kommt ja alles ganz anders. Das ist doch falsch!“
Der schreibende Mensch legt das Gerät wieder in eine verstaubte Kiste. „Ganz normal. Die Intelligenz greift auch bestehende Geschichten auf und entwickelt sie selbstständig weiter. Es tut mir leid, dass dein Protagonist sterben musste. Vermutlich hat mich der Algorithmus als einsam und pessimistisch eingestuft und die Geschichte dementsprechend an mich angepasst.“
„In meiner Geschichte lebt er aber!“
„Alles ist möglich. Es gibt unendlich viele alternative Realitäten. Deine Geschichte ist nur ein Realitätsvorschlag. Alles, an dem man zweifeln kann und an das man denken kann, existiert. Es geht nur noch um Wahrscheinlichkeiten – welche Version der Realität wird uns zugewiesen? In deiner Geschichte wird der Protagonist zum Helden, in meiner ist er tot. Gleichzeitig tot und lebendig. Das ist die Realität unseres Seins.“
Das kommt Markus gleichermaßen bekannt und unverständlich vor.
„Verstehst du nicht, Markus?“ Er blickt in die traurigen Augen des schreibenden Menschen. Für einen Moment meint er, vor einem Spiegel der Zeit zu stehen. „Mit viel Liebe haben wir schreibenden Menschen überlegt, was passiert und was geschieht, wer was fühlt und wer was sieht. Wir haben getüftelt, Worte ausgetauscht und wieder verworfen. Aber das alles ist vorbei.
Die Zeiten, in denen man als Autor mühsam einen roten Faden für eine Geschichte spinnen musste, sind vorbei. Die Künstliche Intelligenz ist eine kompromisslose Nähmaschine, die in Sekundenschnelle neue Erzählungen und alternative Realitäten schafft.
Literatur ist zum Massengut geworden. Texte werden am Fließband produziert – billig, unpersönlich und schnell. Das ist die Realität.“
Markus wird schwindelig. Er sieht die Welt vor seinen Augen nur noch verschwommen. Plötzlich: Ein schrilles Piepsen. Eine roboterartige Stimme meldet sich. Akku leer. Das Gerät schaltet sich in 30 Sekunden ab. Markus taumelt in Raum und Zeit umher. Sein Körper reagiert nicht auf sein Flehen. Er will zurück ins Jetzt. Aber das Jetzt vergeht sekündlich. Das Glas vor seinen Augen splittert. Dann… wird alles dunkel.
Wenig später. Zwischen den Welten.
Hello World! Schön, Sie kennenzulernen, verehrter Leser. Ich bin Quantum Reality. Sicher wollen Sie wissen, wie die Geschichte endet. Klicken Sie dafür einfach auf das „Q“ in der rechten unteren Ecke. Nicht so schüchtern! Ich mache mich gleich an die Arbeit. Im Anfang war das Wort. Und das Wort bin nun ich…